the great depression!
STOPP! bevor du beginnst diesen text zu lesen, please consider: der text thematisiert psychische erkrankungen und suizidalität. lies den text im zweifelsfall lieber nicht oder nur in anwesenheit einer person der du vertraust. pass auf dich auf!
falls du oder eine person in deinem umfeld hilfe braucht:
telefon der dargebotenen hand - 143
telefon bei notfällen - 114
weitere ressourcen in deiner umgebung - https://www.psyche-schweiz.ch/notfallkontakte
stell dir vor, du wärst so ein bisschen depressiv. jetzt nicht ultrakrass depressiv, nur etwa das level von depression, in welchem du noch gehen, stehen und in sitzungen sitzen kannst, aber immer wenn du nach hause kommst musst du heulen. stell dir vor, du hast kürzlich mit dem rauchen angefangen. du weisst selbst, dass das keine weise entscheidung ist und wohl eher selbstmedikation als irgend etwas anderes – aber du denkst an irgend eine studie von der du mal irgendwo gelesen hast, die besagt, dass chronischer stress magen/darmkrebs verursachen kann.[2]du entscheidest dich also für den lungenkrebs und gegen das magengeschwür. trotzdem ist das der punkt, an welchem du realisierst, dass es so nicht weitergeht. klar, du verwendest – mit an und abfahrt – wöchentlich etwa zwei stunden deiner sogenannten freizeit dafür, zu eine:r krankenkassen-anerkannten psycholog:in deiner wahl zu gehen. und du schluckst täglich zwanzig milligramm antidepressiva, welches dir von deine:r hausärzt:in verschrieben wurde. stellen wir uns vor, du arbeitest in einem neuen job. zufälligerweise hattest du die letzten drei jahre eine unstete arbeitssituation gehabt und des öfteren arbeitgeber gewechselt. die depression hatte damit natürlich nichts zu tun. stell dir weiter vor, dass du dich an deinen arbeitgeber (bzw. profitnehmer) wendest und sagst: „du, kuck mal, ich hab depression und ich glaub ich muss in eine klinik. ich werde mich für drei monate krankschreiben lassen müssen.“ stellen wir uns weiter vor, dass dein arbeitgeber dir dann sagt: „aha, das tut uns sehr leid für dich. aber bist du dir sicher, dass du wirklich bei uns arbeiten willst? du bist gerade mal zwei wochen hier. und wir wollen dich auch nicht unnötig einarbeiten. wir fänden es sinnvoll, wenn wir den vertrag im gegenseitigen einvernehmen kündigen, damit du dich erstmal auf deine gesundheit konzentrieren kannst. danach kannst du dich gerne nochmal bei uns melden, weil wir schätzen deine mitarbeit sehr.“ du bist ein wenig überrascht, weil du wolltest nur die details deiner krankschreibung besprechen. fragen, wann es denn am besten passt. du sagst also: „nein, eine gegenseitige vertragsauflösung kommt für mich nicht in frage – zumal ich dann ja auch kein anrecht auf arbeitslosenversicherung hätte. wenn dann müsst ihr mir kündigen – aber eigentlich hatte ich gehofft, wir würden zusammen eine lösung finden…“ dein arbeitgeber nickt verständnisvoll, bespricht sich mit sich selbst und meint: „ja, wenn das so ist, überlegen wir uns nochmal, was wir jetzt machen. du erfährst dann nächste woche, ob wir dir kündigen oder nicht.“
du hast gewusst, dass die welt ein gemeiner, fieser und niederträchtiger ort ist – immerhin bist du depressiv – trotztdem fällst du aus allen wolken. klar, es waren gewitterwolken, die landung ist trotzdem unsanft. natürlich wird es eine sehr unschöne woche, in der du auf den richter:innenspruch des arbeitgebers wartest. die depression hittet hart. trotzdem gehst du arbeiten – weil, du musst zumindest noch den anschein einer gewissen funktionalität aufrecht erhalten. du befindest dich in einem dilemma. du bist die einzige ware, die du hast. du kannst nur dich und deine arbeitskraft zum verkauf anbieten – das ist das, was dir geld bringt. allerdings wirst du auch dazu angehalten, ein gesundes leben zu führen. sport zu treiben. dich gesund zu ernähren. mit dem rauchen aufzuhören. du solltest in dich, in deine zukunft investieren. weil du bist das einzige, was du hast. das leuchtet dir ja auch durchaus alles ein – nur hast du eben diese depression. der richtige weg in deine zukunft zu investieren, wäre ein klinikaufenthalt. nur könntest du dann deinen job verlieren. du musst also weiterarbeiten – weil deine miete zahlt sich ja auch nicht von selbst, ob du ein anrecht auf arbeitslosenversicherung hast, weisst du auch nicht (weil wie gesagt, unstete arbeitssituation) – aber wenn du weiterarbeitest, wirst du garantiert auch weiterrauchen müssen, hast keine kraft für sport und das mit dem gesund ernähren kriegst du auch nur so mässig hin. was also tun?
lass mich dir, in der ungünstigen situation in der du grad steckst, sagen, dass es wohl eine lösung gäbe. du könntest den (neoliberalen) kapitalismus abschaffen. ok, das ist jetzt vielleicht nicht die einfachste lösung, aber gründe gäbe es zumindest einige. in tat und wahrheit gibt es so viele, dass eine kurze zusammenfassung eigentlich unmöglich ist – ich weiss deine (und meine) depression verleitet uns jetzt dazu, aufzugeben, bevor wir überhaupt angefangen haben. aber, lass dir gesagt sein, auch das könnte symptom der sogenannten „burn-out gesellschaft“ sein – wie der philosoph byung-chul han das nennt. er behauptet (und ich kann da nicht anders als ihm zu vertrauen) sigmund freud habe seine vorstellung von der psyche in einer zeit entworfen, die von disziplin und repression geprägt gewesen sei. freud entwirft die psyche als spannung zwischen über-ich und es, zwischen welchem das ichgefangen ist. das es ist hierbei das unterbewusste, das triebhafte und wird nach freud vom über-ich diszipliniert.[3]da wir aber nicht mehr – wie zu freuds zeiten – in einer disziplinar- sondern einer leistungsgesellschaft leben würden, werde das freudsche „sollen“ durch ein „können“ ersetzt, so han. während also freuds vorstellung des unterbewussten (des es) vor allem von verdrängung und der angst vor übertretung geprägt sei, habe sich das moderne subjekt (das moderne ich) immer mehr von der pflicht und der disziplin verabschiedet. statdessen sei die freiheit und die freiwilligkeit an deren stelle getreten.[4]
und obwohl das nach einer positiven entwicklung klingt (freiheit und freiwilligkeit ist ja etwas schönes) führe das aber, nach han, zu einer sogenannten „absoluten konkurrenz“.[5]denn obwohl das leistungssubjekt sich nicht nach pflichten richtet, erwarte es sich von arbeit lustgewinn. während das subjekt der disziplinargesellschaft noch anerkennung erhalten hat, wenn es sich (erfolgreich) hat disziplinieren lassen, so entfällt diese anerkennung im leistungssubjekt. da sich das leistungssubjekt das ziel permanent selbst stellt, stellt sich das gefühl ein endgültiges ziel erreicht zu haben nie ein. „es lebt permanent in einem gefühl des mangels und der schuld. da es letzten endes mit sich konkurriert, versucht es sich selbst zu überholen, bis es zusammenbricht. […] das leistungssubjekt verwirklicht sich zu tode.“[6]und eben diese konkurrenz mit sich selbst, die ständige selbstoptimierung und die unfähigkeit ein ziel zu erreichen, etwas zu einem abschluss zu bringen, nennt han „absolute konkurrenz“. und durch diese absolute konkurrenz, die es zu freuds zeiten noch nicht gegeben habe, hätten sich auch die „typischen“ psychischen erkrankungen gewandelt. diese seien nämlich nicht zeitlos, sondern an die jeweilige gesellschaftsform gekoppelt. zu zeiten freuds sei das die hysterie gewesen (die durch die übertretung der gezeichneten grenzen als aggression (hysterie) nach aussen gerichtet war). heute seien zeittypische krankheiten eher burnout und depression (die in ihrer bewegung eher gegen sich selbst gerichtet sind und nicht selten einen selbstzerstörerischen charakter besitzen). die depression ist die unfähigkeit des ich, das einfach nicht mehr können kann.
du bist jetzt in der klinik und – so gerne du es auch wissen würdest – für den fortgang dieses (nennen wir es in einem akt der selbstüberhöhung mal) essays ist der fakt, ob dir schlussendlich gekündigt wurde oder nicht, nicht so wichtig (aber ich kann dich beruhigen, dir wurde nicht gekündigt). allein die möglichkeit ist bedeutend. auch byung-chul hans theorien haben dir nicht viel gebracht (im gegenteil, in der klinik wird dir gesagt, dass theoretisieren sei wohl eine tendenz von dir, um deine gefühle nicht wahrnehmen zu müssen) und der kapitalismus existiert leider immer noch. lass mich dir jetzt, wo du in der klinik bist, nochmals sagen, dass es wirklich gute gründe gäbe, den kapitalismus abzuschaffen. so könnte ich jetzt beispielsweise mark fisher erwähnen. ja, ich werde – wenn du nichts dagegen hast – mark fisher erwähnen und dir erzählen, was der so über depression zu sagen hat. und wenn dir das nicht passt, sorry, aber du bist in der klinik, du hast deine menschenwürde und dein recht, selbst über dich bestimmen zu können längst abgegeben. die wahrscheinlichkeit, dass du in erster linie als krank und nur sekundär als mensch wahrgenommen wirst, ist gross. die wahrscheinlichkeit, dass dem so ist verstärkt sich nochmals wenn du als frau, Schwarze person, person of colour, trans*, queer, be_hindert, chronisch krank, arm, arbeiter:in oder auf andere weise marginalisiert wirst. aber gehen wir einmal davon aus, dass du ganz „normal“ bist. aka ein weisser cis mann mit ansehnlichem job, einfach um die sache etwas zu vereinfachen – wir wollen das ganze hier ja nicht zu kompliziert machen. lol.
mark fisher – ein schriftsteller und kulturwissenschaftler – litt (wie du) ebenfalls an depressionen. seine psychische verfassung interpretierte er allerdings nicht als einzelschicksal, dass sich allein dadurch lösen liesse, dass du an dir arbeitest (wie dir das in der klinik nahegelegt wird) sondern verwies immer auf die grössere gesellschaftliche und politische ebene.[7]er beschrieb das phänomen, dass sich der kapitalismus im 21. Jahrhundert als alternativlos präsentiert – etwas das er als „capitalism realism“ beschrieb. fisher meinte zudem, dass dieser „kapitalistische realismus“ (sorry, hab grad keine adäquatere übersetzung zur hand) am einfachsten beispielhaft zu erklären sei. so sei z.b. im 20.jahrhundert musik noch von jahrzehnt zu jahrzehnt gut unterscheidbar gewesen. klar gab es länger und kürzer andauernde strömungen. aber alles in allem konnte man musik aus einer vergangenen epoche hören und an diese konkret verortbare vergangenheit zurückdenken. dasselbe in mode und kunst. auch epochen waren einfacher benennbar. mit der postmoderne trat dann aber eine epoche ein, die sich von allen vorherigen unterschied. davor war es stets darum gegangen, etwas neues zu konstruieren, etwas zu erschaffen, während sich die postmoderne hauptsächlich mit der dekonstruktion beschäftigte. auch der letzte glaubenssatz war noch anzweifelbar, eine lineare geschichtserzählung löste sich zugunsten einer vielperspektivigkeit auf. schlussendlich ist – in der postmoderne – jede wahrheit individualisiert worden.
anstatt dass aus dieser individualisierung etwas neues entstanden wäre (neue allianzen/neue gemeinsamkeiten/ neue kollektive), eignete sich der kapitalistische realismus genau dieses streben nach individualität an und trieb sie auf die spitze. die dekonstruktion wurde beibehalten, die geschichtslosigkeit bleibt erhalten, und der kapitalismus etabliert sich zum neuen unhinterfragten glaubenssatz. alles was produziert wird ist im besten fall eine fortsetzung, im schlimmsten fall ein remix von dingen, die im zwanzigsten jahrhundert ihren ursprung fanden. eine unendliche folge von prequels, sequels und remixes/neuauflagen.
ein paar beispiele gefällig?
da wären zum beispiel die live-action verfilmungen von disney. von könig der löwen bis zu mulan wird alles neu verfilmt, was nicht bei drei auf dem baum ist[8]. das gesamte marvel universum, dass sich immer und immer wieder reproduziert. das harry potter universum das ständig durch neue vor- und nachgeschichten bis in die widersprüchlichkeit erweitert wird. die neuverfilmung/fortsetzungen von narnia, rings of power (lord of the rings), sex and the city, game of thrones. selbst dinge die anfangs einundzwanzigstes jahrhundert entstanden sind – z.b. percy jackson – und sich bereits in der ursprungsfassung auf frühere epochen beziehen, werden als serie neuverfilmt.
dasselbe in musik. ABBA hat sich – genau wie linkinpark, rolling stones und viele weitere – wieder neu aufgestellt und sind wieder auf tournée (manchmal nur digital, but it proofs my point). und diejenigen, die sich nicht wieder zusammensetzen können, weil sie tot sind (nirvana), werden gecovert und müssen damit leben (lol), dass sie als t-shirt bei wallmart, h&m und co vermarktet werden. aber auch künstler:innen aus dem 21. Jhr. beziehen sich in einer endlosschleife auf vergangene epochen und auf sich selbst: beyoncées „renaissance“ z.b. oder natürlich auch taylor swifts „eras“ tour und album.
beispiele gibt es genug. und all das ist auch gar nicht wertend gemeint. denn genau das ist kapitalistischer realismus. dass es de facto keine alternative gibt. natürlich bringt das alles auch ordentlich geld, sonst würde es nicht produziert werden. ein ominöses gefühl der nostalgie in eine geschichtslose vergangenheit hält uns in einer alternativlosen gegenwart gefangen.
ja, klar, kapitalismus ist scheisse und so. aber was wäre die alternative? besser als alles andere oder? weil stalinismus war ja auch nicht besser, oder? und so kommen wir – durch diese strukturen der verunmöglichung von alternativen – an einen punkt, an dem es einfacher ist, sich das ende der welt vorzustellen, als das des kapitalismus.[9]der kapitalismus ist nicht einfach wirtschafsform von vielen, nein, kapitalismus wird zur realität, wachstum alternativlos, die gesetze des marktes zu naturgesetzen.
und in dieser alternativlosigkeit, der unmöglichkeit die bestehende ordnung zu ändern, ja, überhaupt darüber nachzudenken, fokussiert sich das individuum ganz auf sich selbst. nicht die welt strukturiert unser sein, sondern wir sind erfolgreich – oder eben nicht.
und hier kommen wir wieder an den punkt, an dem wir uns fragen müssen, wie das ganze mit psychischen erkrankungen aussieht. ist depression eine natürliche folge, in einer welt, in welcher zugleich alles möglich ist, die zugrundeliegende struktur jedoch alternativlos zu sein scheint? und auch der umgang mit psychischer erkrankung verstärkt nochmals die problematik. nicht etwa die gesellschaft wird geändert (obwohl bekannt ist, dass depressionen viel mit sozioökonomischem status, diskriminierungserfahrungen und traumata zu haben – alles in dem sinne „umwelteinflüsse“[10]), sondern dem individuum wird geraten medikamente zu nehmen, in psychologische behandlung zu gehen und „an sich zu arbeiten“. psychische erkrankungen werden – so fisher – privatisiert.
«super», denkst du dir, danke mark fisher. «was soll ich jetzt damit anfangen?» klar, du merkst ja, dass das alles alternativlos ist (weil du hast ja depression) und bist auch fleissig an dir am arbeiten. aber natürlich arbeitest du nur an dir, damit du wieder funktionieren kannst. der ganze sozialstaat ist nur darauf ausgerichtet, dich möglichst schnell wieder «einzugliedern». und alle deine eigenschaften, die nicht einen direkten nutzen haben, die vielleicht sogar manchmal ein bisschen destruktiv sind, werden als «dysfunktional» und als «problemverhalten» beschrieben. «für wen sollst du also heilen?» denkst du dir. «ja, was bedeutet heilung überhaupt, wenn es nur darum geht, als heiler mensch wieder teil eines systems zu werden, dass menschen ausbeutet, den planeten zerstört und das auch noch als alternativlos verkauft?»
in einer welt, in der die gegenwart bis in die unendlichkeit verlängert wird und das individuum die last der selbstverwirklichung auf den schultern trägt, scheint selbstaufgabe die einzige möglichkeit des widerstandes zu sein.
mittlerweilen bist du nicht mehr nur so ein bisschen depressiv, sondern manchmal auch ein bisschen suizidal. aber lass dir eins gesagt sein: selbstaufgabe ist keine lösung. und um dir (und mir) das zu beweisen, möchte ich noch einen weiteren cis-mann zitieren. einfach weil die so gut die welt erklären können.
dieser konkrete mann, wäre autor und journalist david foster wallace. 2005 hat er im kenyon college eine denkwürdige abschlussrede für die absolvent:innen gehalten. zudem hatte er (wie könnte es auch anders sein) sein leben lang mit seiner psychischen verfassung zu kämpfen. die rede beginnt so:
«schwimmen zwei junge fische des weges und treffen zufällig einen älteren fisch, der in der gegenrichtung unterwegs ist. er nickt ihnen zu und sagt: «morgen, jungs. wie ist das wasser?» die zwei jungen fische schwimmen eine weile weiter, und schliesslich wirft der eine dem anderen einen blick zu und sagt: «was zum teufel ist wasser?»[11]
wallace betont weiter, dass er sich in dieser parabel nicht als der ältere fisch versteht. das, was der ältere fisch sagt, ist vielmehr das, was wallace sich ständig zu vergegenwärtigen sucht. denn – so wallace – der mensch wird mit einer standarteinstellung geboren. der mensch (wer auch immer das sein soll? vielleicht der weissecis mann, den wir der einfachheit halber eingeführt haben?) kennt nichts anderes, als die welt nur durch die eigene brille wahrzunehmen. während gefühle, gedanken und empfindungen von anderen menschen einem stets mitgeteilt oder imaginiert werden müssen, ehe man sie «erlebt», ist das erleben seiner selbst für den menschen zwangsläufig. die eigenen gefühle, emotionen und gedanken sind zwangsläufig – sie sind gewissermassen die standardeinstellung. aber, so wallace, wie wir mit dieser standardeinstellung umgehen ist unsere entscheidung. unsere wahlfreiheit.
weil:
«in den alltäglichen grabenkämpfen des erwachsenendaseins gibt es keinen atheismus. jeder betet etwas. es gibt keinen nichtglauben. jeder betet etwas an. aber wir können wählen, was wir anbeten.»[12]
so beschreibt wallace in einer längeren passage, wie er von der arbeit nach hause fährt, sich über die anderen autofahrer:innen aufregt, im supermarkt noch etwas einkaufen geht, alles viel zu eng, zu laut und zu stressig ist, alle zu lang brauchen und nerven.
und wallace folgert:
«wenn sie automatisch sicher sind, dass sie wissen, was wirklichkeit ist und wer und was wirklich wichtig ist – wenn sie gemäss ihrer standardeinstellung operieren wollen, dann werden sie wahrscheinlich genauso wenig wie ich über alternativen nachdenken, die nicht sinnlos sind und nerven. wenn sie aber wirklich zu denken gelernt haben und aufmerksam sein können, dann wissen sie, dass sie eine wahl haben. dann steht es in ihrer macht, eine proppenvolle, heisse und träge konsumhölle als nicht nur sinnvoll, sondern heilig anzusehen, weil sie mit einer energie geladen ist, die sterne erschaffen konnte – anteilnahme und liebe, die unterschwellige einheit aller dinge. nicht, dass so ein mystischer murks unbedingt wahr wäre: im vollsinn des wortes wahr ist nur, dass es ihre entscheidung ist, wie sie die dinge sehen wollen.»[13]
natürlich werden gewisse standardeinstellungen auch einfach zur wirklichkeit. ich kann mir nur essen kaufen, wenn ich geld verdiene. ich muss arbeiten, um geld zu verdienen. stimmt. trotzdem lohnt es sich auch da, einen schritt zurückzutreten, zu denken, das hier ist wasser, das ist die standardeinstellung. es ist die standardeinstellung, meinen persönlichen wert mit meiner verwertbarkeit zu verwechseln. es ist die standardeinstellung sich als individuum (das sich gefälligst selbstverwirklichen soll) zu begreifen und sich unabhängig von der struktur die einen prägt wahrzunehmen. und es ist die standardeinstellung, sich der verwertbarkeit entziehen zu wollen – und sich dabei selbst zu entwerten. mit anderen worten: wenn du an allem schuld bist, du für dein leben alleine verantwortlich bist, du alles individualisierst, dann wirkt suizid tatsächlich wie ein vernünftiger ausweg. ja, auf eine perfide art und weise ist der suizid der kapitalistischen denkweise sogar logisch eingeschrieben. wenn alles eine frage des persönlichen verdienstes ist, dann ist es nicht so abwegig, das gefühl zu haben, es nicht verdient zu haben, zu leben.
aber, und das ist enorm wichtig: es ist eine entscheidung. es ist die entscheidung, der eigenen perspektive, den eigenen gefühlen und wahrnehmungen – und der eigenen hoffnungslosigkeit – so fest zu trauen, dass man auch diesen schritt zu gehen bereit ist.
aber manchmal ist es eben auch gut, sich selbst nicht allzu sehr zu vertrauen, denn, wie wallace schreibt:
«ich glaube, das geisteswissenschaftliche mantra, «das denken zu lernen», läuft im grunde darauf hinaus, dass ich ein bisschen arroganz ablege, ein bisschen «kritisches bewusstsein» für mich und meine gewissheiten entwickle… denn das zeug, dessen ich mir automatisch sicher bin, erweist sich grossenteils als total falsch und irreführend.»[14]
du bist jetzt schon eine ganze weile in der klinik. mittlerweilen ist klar, dass du wohl noch ein längeres weilchen krankgeschrieben sein wirst. die stelle kannst du also vielleicht vergessen. du bist noch in der probezeit, dir könnte gekündigt werden. gerade heute erfährst du, dass, wenn dir gekündigt wird, du auch kein krankentaggeld mehr erhalten wirst. bis das mit deiner iv-anmeldung klappt? who knows. zudem wirst du wohl für einen zweiten aufenthalt wieder in die klinik kommen müssen. grosse lebensentscheidungen und so. aber – und das ist das essenzielle – ich hoffe, dieses bisschen zusammengedampfte lebensphilosophie[15]hilft ein bisschen den – wie es in therapeut:innensprache heisst – neuen weg zu beschreiten[16]und immer öfters entscheidungen als gesunder erwachsener zu treffen[17].
denn – und darauf will ich hinaus – du bist vielleicht depressiv. weil du kannst einfach nicht mehr können. du hast dich bis zum bitteren ende selbstverwirklicht und bist jetzt haupsächlich noch ein häuflein elend umgeben von einer gefrässigen, kapitalistischen gegenwart, die sich als alternativlos verkauft. und das ist das wasser, in dem du schwimmst (bzw. herumdümpelst). natürlich kannst du nicht einfach aus dem wasser kommen (weil du bist ja ein fisch, du bist an die welt gebunden in der du lebst, sonst würdest du ersticken). trotzdem kannst du dir bewusst werden, dass du in wasser schwimmst. du kannst es nicht ändern, nicht alleine den kapitalismus abschaffen und selbstverständlich bringt es dir auch nichts, wenn du einer revolutionsfantasie aus einem anderen jahrhundert nachtrauerst (bzw. diese remixt). aber du kannst lernen. kannst die wasser temperatur einschätzen. merken wie hoch oder tief du schwimmst. und langsam anfangen mit anderen fischen über das wasser zu reden. wohin wollen wir eigentlich als schwarm? wo zieht die strömung uns hin? was ist es, das uns verbindet?
das gute daran ist: niemand (bzw. niefisch) muss den eigenen fatalismus aufgeben. klar, die welt ist am arsch. die zukunft wird höchstwahrscheinlich immer schlimmer. die meisten kipppunkte sind nicht mehr aufzuhalten. die klimakatastrophe ist keine ferne zukunft sondern gegenwart. die rechten werden wohl immer mehr zuspruch erhalten und das leben von minderheiten zur hölle machen (keep your head up high, fellow siblings).
aber, das ist alles wasser. schlussendlich ist das alles wasser.
du wirst es vielleicht geahnt haben, du hast nicht wirklich depression (also vielleicht schon, i don’t know). das war nur ein gedankenexperiment. weil eigentlich (überaschung) habe ich depression. oder die depression hat mich – wie man’s nimmt. was mir in letzter zeit am meisten geholfen hat (hier in der klinik), sind nicht die diversen therapiesitzungen, modelle und methoden. nicht antidepressiva und nicht die tausendste diagnose. was mir am meisten geholfen hat, sind meine mitpatient:innen. deren geschichten (deren wasser) und wie sie immer noch schwimmen. und natürlich die solidarität untereinander, die menschlichkeit, die möglichkeit, von anderen gewässern zu hören (da ist z.b. jefisch einen wasserfall runtergefallen – traumatische erfahrung) und in all der unterschiedlichkeit gemeinsamkeiten zu finden – ohne dass sich das gegenseitig ausschliesst.
die krise ist für den menschen in den meisten zeitaltern normalität. solidarität ist die wichtigste menschliche eigenschaft. und wenn wir uns bewusst werden, dass das hier alles wasser ist und wir individuell entscheiden können, wie wir mit unserem geworfen sein in die welt umgehen wollen, dann ist das vielleicht (nur vielleicht) der erste schritt in der evolution zum säugetier.
und weil der text hier kein ende finden will (bzw. mindestens schon drei enden hat), überlasse ich – bevor du nun aus der klinik austritts und dein leben wieder selbst in die hand nehmen musst – noch einmal mr. wallace das wort:
«die wahrheit im vollsinn des wortes dreht sich um das leben vor dem tod. sie dreht sich um die frage, wie man dreissig oder sogar fünfzig jahre alt wird, ohne sich die kugel zu geben. […] ich wünsche ihnen weit mehr als glück.»[18]
14.03.2025, biel
[1] wahrscheinlich ist es rein formal nicht wirklich eine fabel. aber es kommen sprechende fische drinn vor.
[2] https://www.usz.ch/krankheit/stress/ ; stand: 26.08.2024
[3] https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/ueber-ich/15886; stand: 22.09.24
[4] müdigkeitsgesellschaft, burnoutgesellschaft, hoch-zeit; byung-chul han; matthes&seitz, berlin; 2.auflage, 2018; S.65-88
wenn nicht anders deklariert, beziehen sich alle folgenden indirekten zitate von Han auf diesen essay. bei wörtlichen zitaten wird die quelle jeweils genau ausgewiesen.
[5] han, 2018, S.81
[6] han, 2018, S.70
[7] ok, ich muss kurz die quellenlage etwas erklären. tatsächlich habe ich nie ein buch von m. fisher gelesen. peinlich, i know. steht auf meiner to do list. leider kann ich nicht mehr lesen, als ich kann, also hat mir das internet geholfen. alle informationen zu mark fisher wurden folgenden quellen entnommen:
1. https://www.asta-uhh.de/new-critique/artikel/2022-03-depression.html; stand: 11.11.24
2. https://www.deutschlandfunkkultur.de/zum-tod-des-popkritikers-mark-fisher-depression-und-100.html; stand: 11.11.24
3. https://www.philosophizethis.org/podcast/episode-201-transcript-bkx3e; stand: 11.11.24
4. https://www.philosophizethis.org/podcast/episode-201-transcript-bkx3e-37rkx; stand: 11.11.24
quellen nr. 3 und 4 sind ein von mir sehr geschätzter podcast. unter anderem deswegen und weil ich nicht wörtlich zitiert habe, habe ich mir erlaubt, das hier so «auf einen chlapf» anzugeben. ausserdem bin ich zu faul. und schreibe hier ja auch keine bachelorarbeit sondern einen essay. in meiner freizeit. und muss mir ja auch nicht mehr arbeit machen, als notwendig.
[8]obwohl nicht einmal das vor einer wiederverfilmung sicher ist. auch das dschungelbuch konnte nicht schnell genug davonklettern.
[9]ok, ok, ok. jetzt wird’s kompliziert. weil der auspruch mit dem kapitalismus und dem ende der welt und so ist eben mega schwierig zuzuordnen. wer das als erstes gesagt hat ist ein bisschen unklar. fakt ist, dass mark fisher diesen ausspruch als titel von einem kapitel des buches: «kapitalistischer realismus ohne alternative?» verwendet hat. [https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/www.vsa-verlag.de-fisher-kapitalistischer-realismus-ohne-alternative.pdf; Stand: 01.01.2025] allerdings hat auch slavoy žižek diese aussage (nicht im wortlaut) bei einer rede zu occupy wallstreet verwendet. [https://www.imposemagazine.com/bytes/slavoj-zizek-at-occupy-wall-street-transcript; Stand: 01.01.2025]. teilweise wird das zitat auch teilweise frederic jameson zugeordnet, [https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/211051/commonsbasierte-zukunft/#footnote-target-1; Stand: 01.01.2025] der wiederum wörtlich schreibt: «someone once said that it is easier to imagine the end of the world than to imagine the end of capitalism.» [https://newleftreview.org/issues/ii21/articles/fredric-jameson-future-city; Stand: 01.01.2025]
kurzum: schlussendlich habe ich keine ahnung welche:r someone das genau gesagt/geschrieben hat. irgendwer wird’s schon gesagt haben. weil: «ein gedanke, der einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.» das hat glaube ich der dürrenmatt friedrich mal gesagt, aber hier jetzt auch noch die quelle rauszusuchen wird mir echt zu doof.
[10]ah, fuck, schon wieder so scheiss fakten, die ich belegen muss. natürlich habe ich (wie sich das bei seriösem journalistischem arbeiten gehört) zuerst den satz geschrieben und dann eine dazu passende quelle gesucht. folgende quelle habe ich gefunden:
https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/neurologie/ratgeber-archiv/artikel/diskriminierung-und-stigmatisierung-foerdern-psychische-erkrankungen-auf-vielfaeltige-weise; stand: 01.01.2025
[11] wallace, david foster; das hier ist wasser; 2005; veröffentlicht in: der spass an der sache; hg.:blumenbach ulrich; kippenheuer & witsch,köln: 4.auflage, 2018; s.1028
[12] wallace; 2005; s.1036
[13] wallace; 2005; s.1036
[14] wallace; 2005; s.1030
[15] es ist in wahrheit natürlich alles komplexer und blabla und die besprochenen philosophen haben natürlich auch alle wesentlich komplexer dinge beschrieben. aber darum geht’s nicht.
[16] nach der „dbt“ methode.
[17] aus der schematherapie.
[18] wallace; 2005; s.1038