natürlich gegen fairness boxen



ich durfte dieses jahr wieder nicht an den olympischen spielen teilnehmen. das finde ich extrem unfair. 

aber dazu später. nach dem drama um die zu queere eröffnungsfeier (einschlägige medien haben berichtet [1] [2], die französische bischofskonferenz ist beleidigt und es war (offenbar) gar nicht jesus, der da auf dem tisch getanzt hat), ging es dann schlag auf schlag weiter mit dem disput (oder soll ich es lieber trolling nennen?) um die boxerinnen imane khelif und lin yu-ting. viel lärm um nichts, würde ich gerne sagen – aber leider läutet die absurde debatte eine neue ära des diskutierbaren ein.

„ja, worüber wurde denn diskutiert?“, mögen sich einige an den olympischen spielen uninteressierte fragen. und ich bin jetzt mal ganz ehrlich: ich interessiere mich ebenfalls null für die olympischen spiele. wirklich, ich bin eh schon unsportlich und anderen menschen dann auch noch bei spitzenleistungen zuschauen zu müssen, belastet mich maximal. trotzdem haben mich die geschehnisse rund um den boxkampf zwischen imane khelif und angela carini noch ein bisschen mehr belastet als der fakt, dass es sportliche menschen gibt. und plötzlich hab ich begonnen, mich für boxen zu interessieren – weil mich die daraus entstandene diskussion direkt betrifft. und, und das ist jetzt meine these, zukünftig alle frauen betreffen wird. weil, achtung achtung, frau sein ist jetzt neuerdings etwas, dass frau nicht einfach so sein kann – nein, neuerdings muss ein test bestanden werden. das ist jetzt für alle meine trans* schwestern (und genderqueeren siblings – eigentlich einfach alle, die aus dem raster der gendernorm fallen) nichts neues. ab jetzt dürfen sich aber auch alle cis-frauen darauf freuen, unter generalverdacht zu stehen.

also, folgendes ist passiert. bzw. wurde passiert:
im jahre 2023 hat die international boxing association (iba) die beiden sportlerinnen imane khelif und lin yu-ting von den womens world boxing championship ausgeschlossen. die begründung war ein ominöser geschlechtstest, der offensichtlich nicht bestanden wurde. [3] bis heute weiss niemand so genau, was da eigentlich getestet wurde. zudem ist die iba alles andere als unabhängig. so gilt etwa der präsident umar kremlev als sehr kremel nah und die iba ist zum grössten teil von gazprom finanziert. [4] in der vergangenheit gab es gegenüber dem alten iba präsidenten korruptionsvorwürfe – umar kremlev galt damals als sein enger vertrauter. auch der ukrainische nationale boxverband wurde aus umstrittenen gründen von einem iba kongress suspendiert. seit 2019 ist die iba deswegen nicht mehr für die organisation und das regelwerk der olympischen spiele verantwortlich [5] und auch dieses jahr hat das internationale olympische komitee (ioc) beschlossen die organisation selbst zu übernehmen [6]. und, da dem ioc kein konkreter test vorlag und es auch sonst keinerlei gründe gegeben hätte, die beiden boxerinnen auszuschliessen, wurde (vernünftigerweise) entschieden, lin yu-ting und imane khelif ganz normal antreten zu lassen. so als wäre nichts. weil defacto ja auch nichts war. die iba hat dann nochmals eine pressekonferenz abgehalten – durchzogen von technischen problemen – bei der die konkrete erwartung war, das details über die form dieser ominösen tests veröffentlicht würden. das ist aber nicht passiert. [7] bis heute weiss also niemand, was da genau getestet wurde, bzw. ob überhaupt etwas getestet wurde. imane khelif spricht diesbezüglich übrigens davon, dass es eine gezielte aktion gegen sie gewesen sei. auffällig ist nämlich, das khelif drei tage nach dem sie gegen die russische, bisher unbesiegte boxerin azalia amineva gewonnen hatte, suspendiert wurde. khelif wurde auch nicht vor der womens boxing championship 2023 ausgeschlossen, wie das eigentlich üblich wäre, sondern erst nachdem khelif im finale gegen amineva gewonnen hatte. mit der suspendierung khelifs galt die amineva dann erneut als unbesiegt. [8] [9]

ungefähr ein jahr später kam es an den olympischen spielen zum kampf zwischen imane khelif und angela carini. imane khelif hat den kampf nach nur 46 sekunden gewonnen, angela carini gab auf und verweigerte khelif den handschlag. obwohl sich carini später bei khelif entschuldigte [10], liess sie nach dem kampf verlauten, sie habe diesen abgebrochen, weil sie ihr leben habe schützen müssen. carinis trainer bezeichnete den kampf als unfair [11]. und das hat gereicht um eine alte, von der iba weiter befeuerten debatte wieder neuen aufschub zu leisten. plötzlich stand khelifs geschlecht öffentlich zur diskussion.

das über das (vermeintliche) geschlecht von sportler:innen diskutiert wird, ist nichts neues. so durften z.b. auch schwimmerin lia thomas oder mittelstreckenläuferin caster semenya die unfreiwillige und eklige aufmerksamkeit der gesamten weltöffentlichkeit geniessen. [11]

nur: was – und das ist jetzt gefühlte statistik meinerseits – sich dieses jahr unterscheidet, ist die vehemenz, die aggressivität und die gezieltheit mit der khelif und lin angegangen wurden. natürlich haben sich zuerst der reihum alle verdächtigen kanditat:innen zu wort gemeldet. von trump über meloni bis hin zu elon musk und jk rowling mussten natürlich alle mitreden. in der allgmeinen aufruhr war aufgebrachten menge schlussendlich auch ziemlich egal, was der „vorwurf“ an khelif und lin genau sein soll. ob sie jetzt inter, trans oder schlichtweg einfach männer seien, spielte keine grosse rolle. [11] aber eines ist klar: sie galten als irgendwie nicht normal. nicht natürlich.

was wir aus diesem vorfall lernen können ist nicht, dass wir eine unterhaltung über fairness im sport führen müssen. wir müssen auch nicht darüber reden, ob höhere testosteron level menschen einen unfairen vorteil verschaffen. weil, und ich möchte das ein für alle mal klarstellen: sport ist fucking unfair. klar haben alle menschen unterschiedliche körper. klar haben gewisse menschen z.b. längere beine als andere. trotzdem kann sich dann ja niemand darüber beschweren, dass man nicht gewonnen hat, weil man kürzere beine hatte. das ist unfair, klar. oder beim schach: ich bin echt nicht gut im schach spielen. weil ich zu dumm und zu impulsiv bin. mit diesen eigenschaften wurde ich geboren. kann ich nichts für. trotzdem fordere ich niemanden dazu auf, intelligenz senkende mittel zu nehmen, damit ich auch an den schachweltmeisterschaften teilnehmen kann. ich kann nicht schwimmen. habe höhenangst und gelenkprobleme. die disziplinen schwimmen, geräteturnen und leichtathletik fallen für mich also weg. scheisse. mega unfair. klar. aber sport ist – verdammt nochmal – immer unfair!

alice hasters verweist in ihrem buch „was weisse menschen nicht über rassismus wissen, aber wissen sollten“ darauf hin, dass im sport vor allem bei Schwarzen menschen bzw. personen of colour darüber diskutiert wird, ob bestimmte sogenannt „biologische“ aspekte unfair seien. [12] dabei wird völlig ausser acht gelassen, dass biologie nur dann als erklärungsmodell angewendet wird, wenn menschen aus marginalisierten gruppen in etwas gut sind. es wird dann – laut hasters – nur die frage gestellt, weshalb z.b. „überdurchschnittlich“ viele Schwarze menschen jeweils olympia gold im sprint gewinnen. die frage, weshalb fast nur weisse menschen im golfen gewinnen wird nicht gestellt. das gilt dann als natürlich. als leistung der jeweiligen person. es gibt keine untersuchungen darüber, wieso weisse einen bessere physiognomie zum golfen haben.

wir lernen also: ja, sport ist unfair. gewisse menschen haben gewisse vorteile. aber erstens haben das alle menschen, die spitzensport machen und zweitens sind das meistens nicht (nur) biologische vorteile. ob jemand in einem bestimmten wettkampf gewinnt hängt von viel mehr ab, als nur biologie. zum beispiel spielt es eine rolle, wo man aufgewachsen ist, wie gut die ausbildung war, ob die familie die ausbildung überhaupt finanzieren konnte, ob genug gute ausbildungsanlagen zur verfügung stehen. natürlich spielen viel mehr faktoren eine rolle. hab ich gerade einen guten tag? ist es ein wetter das mir passt? es gibt so viele viele viele unterschiedlichen faktoren, die eine rolle spielen – sich nur auf die angebliche biologie zu fokussieren ist irgendwie strange. vorallem weil imane khelif und lin yu-ting ja nicht erst seit diesem jahr bei den olympischen spielen mitspielen. sie waren beide bereits 2021 dabei – und damals hat sich niemand für ihr vermeintliches „biologisches geschlecht“ interessiert. weil sie halt damals nicht gewonnen haben [11]. und diese sogenannte biologie dann zu werten und als unfair zu bezeichnen, nur weil die beiden jetzt gut sind, ist einfach nur zynisch. wenn du es unfair findest geschlagen zu werden, dann geh halt nicht boxen.

was in der diskussion um khelif und lin ein grosser unterschied zu caster semenya und lia thomas ist: khelif und lin werden quasi out of the blue als „queer beschuldigt“. semenya und thomas sind wenigstens – so zynisch es klingt – „erwiesenermassen queer“ (bitte beachten Sie die anführungszeichen! – das ist hier jetzt nicht meine wirkliche meinung.  ich finde die fälle von thomas und semenya natürlich nicht weniger eklig oder grausam – gerade mir als genderqueere person bereiten all diese diskussionen gleichermassen existenzängste und das gefühl etwas monströses und unnormales zu sein. in diesem sinn ist für mich also alles so wie immer.) was aber am neusten shitstorm gut ablesbar ist, ist, wie die internationale rechte es schafft, die diskursverschiebung immer mehr in der sogenannten mitte der gesellschaft zu verankern und rollenvorstellungen immer mehr einzuschränken. wer spätestens jetzt wirklich queers in ihren existenziellen kämpfen unterstützen sollte, sind cis-frauen.

in der wirklich gruseligen diskussion um khelif und lin gab es so einiges, was mir, wäre ich eine cis-frau (und hätte ich mich nicht schon längst aus solidarität mit den queers verbündet) definitiv angst machen würde. es gab keine verlässlichen tests, soviel wurde bereits gesagt. nicht nur das, die iba hat sich auch mehrfach widersprochen. teilweise wurde von dna, dann wiederum von hormontests gesprochen. vorgelegt wurde rein gar nichts. also mussten andere beweise her. so wurde beispielsweise khelifs männlichkeit an diversen bildern „abgelesen“, an der art und weise wie khelif sich in situationen gekleidet hat und wie ihre boxing hose falten geworfen hat [11].  unter bilder des kampfes wurde dann z.b. von jk rowling sachen gepostet wie: „The smirk of a male who’s knows he’s protected by a misogynist sporting establishment enjoying the distress of a woman he’s just punched in the head, and whose life’s ambition he’s just shattered.“ [13]

mit anderen worten: wenn eine cis-frau eine etwas tiefe stimme hat, vielleicht gross ist, ihre hose unvorteilhaft falten wirft, sie keine röcke trägt oder kurze haare hat, dann läuft diese frau gefahr als queer und damit als unmenschlich, abstrus und monströs – ja, als gefahr für alle frauen zu gelten. und jk rowling oder irgend ein anderer hansel entscheidet offiziell, wer als frau gilt und wer nicht. dabei wird nicht einmal mehr der anschein einer wissenschaftlichkeit und objektivität gewahrt (die es natürlich so noch nie gab) sondern es reicht, bilder rauszusuchen, wo jemand besonders „männlich“ wirkt. natürlich sind diese bilder gerade im boxen zuhauf zu finden. die vermeintliche gefahr beschränkt sich also nicht mehr nur auf die „wirkliche“ queere community, nein, es werden jetzt einfach menschen (ziemlich willkürlich) queer gemacht, und damit diskreditiert. also aufgepasst, meine lieben leser:innen, es kann euch alle treffen.

natürlich ist das alles nun doch nicht so ganz neu, wie ich behauptet habe. dass die queere menschen – especially trans personen – die neue scape goat der welt sind, hat sich so ergeben. und so war es dann auch nur der nächste logische schritt, dass das olypmische komitee khelif und lin nicht einfach bedingungslos verteidigte, sondern stets betonte, dass khelif und lin „wirklich“ frauen seien. mit anderen worten: khelif und lin werden damit verteidigt, dass sie nicht trans frauen sind. [14] als ob das ein unterschied machen würde – aber nein, mal wieder werden die vulnerabelsten unter den bus geworfen.

noch zwei sachen will ich anmerken, bevor ich dieses intelektuelle schattenboxen hier ein für alle mal beenden möchte:

1. selbstverständlich wird hier nicht nur gegen trans* personen gehetzt (das wäre ja auch viel zu langweilig) nein, um das ganze narrativ auch schön mehrheitsfähig zu machen, wird auch mit rassistischen stereotypen gespielt. so ist es kein zufall, dass die bilder vom kampf carini gegen khelif extrem wirkmächtig sind – vor allem mit den darunter stehenden kommentaren, das khelif ja ein mann sei. und plötzlich sehen alle den alten rassitischen stereotyp eines Schwarzen mannes der sich an einer weissen (und damit beschützenswerten) frau vergeht. es ist ebenfalls kein zufall das die beiden „angeklagten“ lin und khelif personen of colour sind. genau wie im fall von carsten semenya ist es einfacher, Schwarzen frauen und frauen of colour ihre weiblichkeit abzusprechen – ein rassistisches narrativ dass sich seit jahrhunderten durch unsere geschichte zieht. [15] und so leiden natürlich die ohnehin schon mehrfach marginalisierten mal wieder am meisten. ich möchte in diesem zusammenhang noch kurz die extrem wichtige rede „ar‘n‘t i a woman?“ von sojourner truth erwähnen (obwohl sich die quellen uneinig sind ob sie diesen berühmten satz tatsächlich gesagt hat). [16] bitte lesen. danke.

2. sport ist im moment der ring, in welchem die internationale rechte meint, einen kulturkampf austragen zu müssen. weil klar, bei sport geht es ja in extremer weise um körper und so. aber natürlich ist es nicht der einzige schauplatz. schulen zum beispiel sind auch sehr beliebt. [17] generell, alles was mit kindern zu tun hat – und so werden die rechte von trans* Kindern auch in der schweiz immer mehr eingeschränkt und zur debatte gestellt – ohne das irgendein medium ausführlich darüber berichten würde. [18] und natürlich nimmt auch die einschränkung der rechte von cis-frauen immer mehr zu (z.b. abtreibung…). in diesem kontext soll nicht unerwähnt bleiben, dass viele dieser kämpfe – wie das schon immer war – gerne am körper von frauen ausgetragen wird. mit vorliebe an mehrfach marginalisierten körpern. ich empfehle hierzu den essay „haunted by norma and normman“ in welchem es um pussy phenology geht. was das mit boxen zu tun hat? lesen und rausfinden. [19]

so, eigentlich wollte ich mich jetzt noch mit dem begriff der natürlichkeit auseinandersetzen oder noch darauf hinweisen, dass der ganze shitstorm bewusst von rechten und russischen trollen befeuert wurde (unter anderem weil keine russischen sportler:innen an den olympischen spielen teilnehmen durften) [15] – aber das würde jetzt zu weit führen. ich möchte meiner hoffnung ausdruck verleihen, dass wir diese düstere zeit bald überstanden haben. möchte betonen, dass es dafür ein wenig mehr solidarität braucht, als sich jetzt gerade blicken lässt. und möchte mit einer positiven wendung diesen überbordenden text beenden:
imane khelif und lin yu-ting haben beide olypmisches gold in ihrer gewichtsklasse geholt.

ich leider nicht. das ist natürlich unfair. aber wenigstens muss ich mich nicht hauptberuflich mit anderen menschen prügeln.

17.08.24, biel